Ulrike Noltenius (Osnabrück) - Dichtung und Gesang

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Die Klavierstunde

Aria Amorosa

Eine unbarmherzige Sonne brütete seit Tagen über der Stadt und ließ alles erblühen, was sonst Mitte Mai nicht einmal Knospen trägt: Kirschbäume strotzten vor Kraft, Kastanien schmückten sich mit weißen Dolden, Rhododendren prangten in leuchtendstem Weiß und die Rosen, ja sie vor allem standen in voller Pracht und wußten nicht, wohin mit ihren schweren Blüten. Auch und sogar die Zierrosen des Herrn von Thon: Die chinesische Noisette, die Pernetiana und die Bengalische Rose, mogenländische Arten, die der Konsul in seinem Garten pflanzte, säuberlich abschnitt und seiner Frau Cornelia in kleinen Mengen ins Wohnzimmer brachte, wo sie in Erzberg- und Rosenthalvasen auf dem Mahagonitischchen und dem Sekretär der Louis-Quatorze-Zeit ihrer Muttererde und Wurzeln beraubt ein ebenso stilvolles und edles wie künstliches und kurzbemessenes Leben führten.

Alles an dem Anwesen des Konsuls war erlesen und kunstvoll - mit Ausnahme der beiden Menschen, die an diesem Mittwochmittag das Haus bewohnten: Die achtjährige Tochter Franziska, die in einem Haufen willkürlich übereinandergeschichteter Kissen lag und immer wieder den einen Satz sagte: "Ich gehe nicht dahin" und die Mutter Cornelia, die versuchte, das Mädchen zu überreden, doch fortzugehen, und die unruhevoll zwischen dem Raum ihrer Tochter, dem Schlafzimmer, dem Wohnzimmer und dem Speiseraum hin- und herwanderte. Drei Mal schon hatte sie den Telefonhörer in der Hand gehabt, drei Mal den großen Esstisch aus Mahagoni umrundet, drei Mal Rosen und Vasen, Sekretär und die hohen, bastbespannten Essstühle überwunden, um zum Telefon zu greifen und dem Klavierlehrer zu sagen, dass ihre Tochter nicht käme und die Klavierstunde heute um Drei ausfiele. Aber jedes Mal waren ihre Beine, kaum hatte sie das Telefon in der Hand, seltsam schwach geworden, und sie hatte es nicht fertig gebracht, die Nummer zu wählen, denn dieses Mal, das wußte sie, wäre es endgültig gewesen.

Sie hätte nicht, wie an den drei vorangegangenen Mittwochnachmittagen eine Entschuldigung vorbringen und äußern können: "Franziska fühlt sich nicht gut, sie muss dringend für eine Klassenarbeit lernen, sie muß zur Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin." Dieses Mal hätte sie etwas anderes sagen müssen, nämlich: "Ich, die Mutter, kann meine Tochter nicht mehr den weiten Weg zu Ihnen in die Klavierstunde bringen, nicht mehr bei Ihnen sitzen, nicht mehr meiner Tochter und Ihnen beim Klavierspielen zusehen und -hören. Denn: "Meine Tochter will nicht mehr, nie mehr, überhaupt nicht mehr, und somit komme auch ich überhaupt und nie wieder zu ihnen."

Cornelia ging vom Wohnzimmer in die Küche, von der Küche in das Schlafzimmer, vom Schlafzimmer auf die Terrasse und von dort in den Garten. Sie rannte über den kleinen gepflegten Kiesweg, rannte an den überaus gepflegten alten, schönen Rhododendren und Azaleenbüschen vorbei und geradewegs auf das Heiligtum ihres Mannes zu: Das Rosenbeet. In Reih und Glied standen sie hier, hochherrschaftlich und mächtig, wie ihr schien, als Krone des Gartens: Die Züchtungen ihres Mannes: Gehegt und gepflegt, angepflanzt und beschnitten, neuangepflanzt und wieder beschnitten, im Herbst mit Erde und im Winter mit Tannensträuchern geschützt von ihm, dem Meister."Irgendwie verstehst du es nicht, elegant mit der Natur umzugehen", pflegte ihr Mann zu sagen, und Cornelia hatte sich seiner Anordnung, den Rosengarten niemals zu betreten, bisher ebenso gebeugt wie der, nur für das Kind, die Beaufsichtigung der Dienstboten und das Führen gepflegter Small-Talks bei den abendlichen Geschäftsarbeitsessen zuständig zu sein.

Jetzt rannte sie auf die Beete zu. Sie verließ den schönen Kiesweg, zertrat die künstlich zwischen den Rosen aufgeschichtete Erde und riß eine Rose nach der anderen ab, die gelbe, die rosa, die hellrote und zum Schluß, das Innerste des Heiligtums, die dunkelrote Rubirosa. Ohne Heckenschere und Gartenhandschuhe brach sie die Blumen ab und merkte nicht, wie sie sich die Hände zerkratzte an den Dornen und zerstach. Dann lief sie in das Haus, rannte in den Umkleideraum, der hinter der Terrasse neben dem Schlafzimmer lag, riss wahllos Kleidungsstücke aus dem Schrank und warf sie auf das Sofa an der gegenüberliegenden Seite. Dabei dachte sie unaufhörlich an die Lieblingsworte ihres Mannes: "Unauffällige Eleganz". Das schwarze Kleid: 'Unauffällige Eleganz': Zack auf das Bett. Ein graues Kostüm: Zack aufs Bett geworfen. Den schwarzen Rock mit dem grauen T-Shirt: 'Unauffällige Eleganz': Aufs Bett geworfen. Die weiße Bluse mit der hellen Jacke und dem blauen T-Shirt: 'Unauffällige Eleganz': Zack, weg.

Schließlich geriet Cornelia an ein Kleid, das niemand in der Familie mochte, am wenigsten ihr Mann, und sogar die Verkäuferin hatte etwas gelächelt, als sie es anprobierte und gemeint:"Wissen Sie, das paßt so gar nicht zu ihrem Typ - hellgrün und kurz und dann dieser für Sie zu breite hellrosa Gürtel und der Ausschnitt." Cornelias Gesicht überstrahlte ein glückliches Lächeln, als sie das Kleid sah. Sie zog es an, nahm die gerupften Blumen und rannnte schnell in das Mädchenzimmer ihrer Tochter, Die sah kurz auf, lachte, als sie die Mutter in dieser Aufmachung vor sich sah, rief: "O Gott, Mama!" und fragte dann: "Du gehst hin und meldest mich ab?""Ja" war die Antwort, und schon hetzte Cornelia weiter mit dem Gedanken "Zwanzig vor Drei. Ich brauche eine halbe Stunde, und um Drei beginnt der Klavierunterricht."

Das Anwesen der Thons war umgeben von einer hohen Betonmauer, die Cornelias Mann vor vielen Jahren hatte aufstellen lassen, um eine Einsicht Fremder in das Innere des Gartens und auf das Haus zu verhindern. Zur Verschönerung der Ansicht und wie, um den wahren Zweck der Mauern zu verschleiern, hatte er vor langer Zeit Edeltannen und Fichten vor beide Seiten der Betoneinfassung setzen lassen, die inzwischen so hoch gewachsen waren, dass sie die Mauern um einiges überragten. Auch das kunstvoll geschwungene Messingschild mit der kalliographisch schönen und stilvollen Aufschrift: "Friedrich von Thon, Konsul der Republik Indonesiens und Vorstandsvorsitzender der Hamburgischen Landeszentralbank" befand sich an der Mauer und suggerierte jedem der zu den häufigen Abendessen geladenen Politiker oder Wirtschaftsfachleute Eigenschaften wie gediegene Eleganz, zurückhaltenden Wohlstand, Respektabilität und natürliche Reputation.

Die Sonne schien noch immer unbarmherzig vom Himmel und ließ die Villa in gleißendem Licht erscheinen, als Cornelia nervös und aufgeregt vor der Garagentür stand, die sich wie ein Gefängnistor für große, wilde Tiere im Zeitlupentempo öffnete. Sie sprang ins Auto, warf die Rosen auf den Nebensitz und brauste los. Dabei dachte sie kurz daran, dass sie in der Eile sowohl das Garagen- als auch das Eingangstor der Villa offengelassen hatte, und daß außerdem nichts zur Vorbereitung des Arbeitsessens heute Abend geschehen war, zu dem ihr Mann, wie er sagte, politisch und gesellschaftlich maßgebliche Leute eingeladen hatte, die auch für seine Reputation wichtig waren.

Sie fuhr die lange Auffahrt hinunter und an den alten Eichen vorbei, die die vornehme Straße vor der Villa umstanden, ließ den Friedhof hinter sich liegen, der sich alt und ehrwürdig neben der rechten Seite der kleinen Allee vor der Villa hinzog und gelangte in die Innenstadt und damit in eine völlig andere Welt. Autos hupten, ein an- und abfahrender Bus quietschte, vergnügte junge Mädchen aßen unter lauten Reden heftig gestikulierend Eis, junge und alte Hausfrauen schoben mit Plastik- und Jutetaschen sowie fahrbaren Einkaufswägelchen durch die Straßen, und Mütter eilten mit Kinderwagen quer über die Fahrbahn. Der Verkehr war hier so stark, dass Cornelia aufpassen musste, ihr Fahrzeug unversehrt durch das allgemeine Gedränge hindurchzulenken. Dazu die brütende Hitze. Nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, gelangte sie endlich in eine kleine Seitenstraße.

Sie war am Ziel: Vor ihr ein roter, niedriger Klinkerbau, umrankt von Efeu und wildem Wein: Das Haus des Klavierlehrers. In dem kleinen Vorgarten gaben sich Goldgarben, Margeriten und hellblauer Rittersporn ein ebenso reizvolles wie wildes und unordentliches Stelldichein, und der Kiesweg, der zur Eingangstür führte, war überwuchert von blühendem, duftendem Unkraut aller Art: Schafsgarben vermischten sich mit Löwenzahn, Wiesenschaumkraut stand inmitten von Buschwindröschen und Vergißmeinnicht, und die vulgäre Butterblume überleuchtete alles mit hellem, gelbem Sonnenglanz. Cornelia erschien dies seltsame Blumen-, Unkraut- und Kräutergemisch wie ein Paradies. Jedes Mal war das so gewesen, drei Jahre lang, und wie jedes Mal spürte sie beim Betreten des überwucherten Kiesweges ein weiches Gefühl in den Knien.

Als sie klingeln wollte, wurde ihr plötzlich schwindelig. Ja, sie dachte kurzfristig daran, umzukehren und wieder fortzufahren. Was eigentlich wollte sie hier? Drei Jahre lang war sie nur um dieser einen Stunde am Mittwoch um Drei aufgestanden, hatte die langweiligen Small- Talks der Geschäftsfreunde ihres Mannes ertragen, die Launen der Tochter und die förmliche Kälte ihres Mannes durchgehalten, und nun sollte dieses alles vor bei sein. Cornelias Hand mit den Blumen sank herab. Am liebsten hätte sie sie vor die Tür gelegt und wäre davongerannt. Aber da hatte sie schon geklingelt und erkannte im Dunkel des Türrahmens eine ihr wohlbekannte, große und hagere Gestalt. Diese schien nicht weniger erschrocken als sie selbst. Der Mann wurde blaß, als er die Frau erkannte, und für einige Sekunden schien es so, als hätte er den gleichen Wunsch, den Cornelia eben Minuten vorher bei sich verspürt hatte, nämlich, wegzulaufen.

Dann aber schluckte er mehrmals und sagte leise - immer noch unter dem Schock der plötzlichen Gegenwart der Frau - so etwas wie: "Ach ja." Worauf sie ohne jede Logik erwiderte: "Ja."

Die Frau traute sich nicht, aufzublicken und den Mann anzusehen, und als sie ihm ungeschickt die Hand reichen wollte, griff sie zunächst daneben, weil er genau wie sie nicht wagte, hochzusehen, sondern an ihr vorbei auf eine Stelle des Holzfußbodens zu seinen Füßen starrte, auf der weiß Gott nicht viel zu sehen war.

Wiederum setzte er an und sagte: "Ach ja.", und wiederum sagte sie: "Ja", und ein Außenstehender, der die beiden beobachtete, hätte mit Sicherheit annehmen können, dass es sich hier um zwei Menschen handelte, die weder ihrer Sprache noch ihrer fünf Sinne mächtig, also schwachsinnig waren.

Der wortkargen Begrüßung folgte zudem eine Stille, die beide mit Recht als gefährlich empfanden. Der Klavierlehrer faßte sich zuerst und sagte, immer noch angespannt seinen eigenen Holzfußboden fixierend: "Sie kommt wohl nicht mehr." Darauf die Frau: "Nein, sie kommt nicht mehr." Darauf er: "Dann kommen Sie herein, und wir fangen an." Dieser Satz, der jeder Logik entbehrte und das Groteske der Situation noch widersinniger erscheinen ließ, bewirkte bei der Frau eine Entspannung des ganzen Körpers und der Gesichtszüge. Sie atmete tief durch und folgte dem Mann in sein Arbeitszimmer.

Dort spielte sich ab, was drei Jahre lang jeden Mittwochnachmittag um die gleiche Zeit hier geschehen war. Die Frau setzte sich auf ein rotes, zerschlissenes Sofa, das an der Seitenwand des Raumes hinter dem Klavier stand, und der Mann blätterte in seinen Noten. Er sah kurz auf und fragte: "Am Anfang Bach?" Sie nickte, und er begann.

Die Töne perlten in den Raum. Sie streiften drei ungespülte Kaffeetassen auf einem braunen Holztisch, versteckten sich im Gewirr eines Blätterstapels auf der Erde, spielten mit den Fransen des abgetragenen Berberteppichs und versteckten sich in den Rändern der Gardine, die sich an der linken und rechten Seite des Fensters weiß und mächtig bauschte. Sie streichelten die zusammengefalteten Hände der Frau und ihren geraden Rücken, verweilten bei den Rosen, die steif auf ihren Knien lagen, vereinten sich über den Händen des Mannes und verschwanden einer nach dem anderen in der Tiefe der Tastatur, aus der sie gekommen waren.

Der Klavierspieler schwieg in das Klavier und seine Tasten hinein. Die Frau schwieg in ihre Hände.

Nach längerer Pause fragte sie leise: "Mozart?", und er begann. Wieder stiegen Töne auf. Doch dieses Mal flogen sie hoch. Sie stiegen weit über das geöffnete Fenster in den strahlend blauen Himmel. Sie fassten sich bei den Händen. Sie öffneten und schlossen sich und landeten auf den weißen Blüten des Nussbaumes im Garten. Sie verwoben sich mit den schwebenden Düften der Goldgarbe, umspielten die weißen Margeriten, legten sich zärtlich auf die Blätter der rosa Heckenkirsche und entschwanden jubelnd und jauchzend dort, woher sie gekommen waren: Im hohen Himmel.

Die Frau lehnte sich zurück. Sie legte die Rosen neben sich auf das zerschlissene Sofa, öffnete die Hände und dachte: "Das ist der Himmel. Das ist wirklich der Himmel." Der Klavierspieler wartete wieder eine Weile. Dann fragte er: "Beethoven?", und sie nickte. Wieder stiegen die Töne auf, aber jetzt blieben sie weder im Inneren des Raumes noch draußen im Garten, sondern sie geisterten unruhig suchend hin und her. Sie schwangen sich in die Höhe und stürzten herab. Sie blieben im Zimmer und rasten nach draußen. Sie peitschten die Erde zu Füßen des Kirschbaumes und schwangen sich in seine Spitzen. Sie bauschten die Vorhänge, perlten, strömten, klopfen, trommelten, hieben, stoben, hetzten und wankten unruhevoll von drinnen nach draußen, von draußen nach drinnen und von einer Ecke des Zimmers zu der anderen.

Zum Schluß umkreisten sie die Füße des Mannes auf dem Pedal und den Kopf der Frau.

Die sah sich als junges Mädchen im Konservatorium sitzen, leidenschaftlich und glücklich am Klavier mit dem gleichen Stück, das sie jetzt hörte. Dann sah sie ihren Mann, den Louis-Quatorze-Sekretär, die Rosenthalvase, und zum Schluß blieb ihr Blick an den Schultern des Klavierspielers hängen, die sich im Rhythmus der Musik gleichmäßig hoben und senkten, und es erfaßte sie ein ungeahntes Glücksgefühl. Der machte jetzt keine Pause mehr, sagte: "Schumann, Kinderszenen" und begann. Sie sah sich als junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Auch hier ein Glücksgefühl. Dann wurde die Tochter größer. Der Klavierspieler spielte den "Fröhlichen Landmann", das Stück, das das Mädchen wochenlang im Beisein der Mutter erfolglos geübt und in den vergangenen Klavierstunden immer wieder gespielt hatte. Das Glücksgefühl zerbrach. Die Mutter fand sich wieder in der Wirklichkeit, und der Klavierspieler hörte wortlos auf zu spielen.

Beide sahen jetzt aus dem Fenster: Der Himmel hatte sich bewölkt. Es war kälter geworden und die glühende Hitze des Mittags vergangen. "Ich muß wohl gehen", sagte die Frau und stand auf. Auch der Klavierspieler erhob sich und folgte ihr beim Verlassen des Raumes. Als sie an der Haustür standen, begann sie: "Wissen Sie, mein Mann hat heute...", und er vollendete den Satz: "Sie haben abends wieder Besuch." "Ja, und ich habe noch gar nichts vorbereitet." Dann standen sie unschlüssig voreinander, und wiederum entstand wie bei der Ankunft der Frau eine gefährliche Stille.Schließlich drückte sie die Türklinke herunter und rannte hinaus. Als sie schon fast an der Gartenpforte war, hörte sie ihn rufen: "Sie kommen wieder?"

Sie sagte etwas, was er nicht mehr verstand und war schon draußen auf der Straße. Als Cornelia im Auto saß, fing es an zu regen. Zuerst einige Tropfen, dann immer stärker schütteten die Wolken ihren Regen aus. Es prasselte auf die Böden der Gärten, auf den Asphalt der Straßen, auf Häuser, Dächer, Autos und Windschutzscheiben. Es war, als wollte der Himmel sich endlich befreien von einer glühenden Sonne, die mit unbarmherziger Strenge und Härte lange Zeit hindurch das Leben der Natur regiert und Menschen, Tiere und Pflanzen gebieterisch in ihrem Bann gehalten hatte.

Es tropfte, klopfte, rasselte und prasselte, wohin man auch sah, und als Cornelia mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Innenstadt raste, bot sich ihr ein völlig verändertes, seltsam ungewohntes Bild: Laut hupende Autos mit wild gestikulierenden Fahrern, quietschende Bremsen von Bussen und überall Menschen, die krampfhaft ihre Regenschirme festhielten, die hüpften, sprangen, rannten und Deckung suchten vor einem Prasselregen, der ebenso plötzlich wie unerwartet die gesamten Straßen der Innenstadt in unübersichtliche, rutschige, halt- und bodenlose Flächen verwandelte hatte.

Cornelia raste an allem vorbei und merkte nicht, dass mehrere Straßenpassanten laut hinter ihr herfluchten, von oben bis unten durch das viel zu schnell fahrende Auto nassgespritzt. Als sie sich dem immer noch offenstehenden Eingangstor des Anwesens näherte, begann es in der Ferne zu donnern. Sekunden später zuckte ein Blitz, und während Cornelia in die Garage fuhr, folgten Blitz und Donner in Sekundenschnelle aufeinander.

Ein Gewitter war losgebrochen in einer Heftigkeit wie Jahre zuvor nicht mehr, und als Cornelia das Auto verlassen hatte, tauchte ein Blitzstrahl das ganze Anwesen in ein so grelles, weißes Licht, dass die hübsche Villa wie ein Gespenster- oder Geisterhaus erschien. Cornelia lief in das Haus und rannte ins Schlafzimmer. Sie warf sich, nass wie sie war, auf das Bett, faltete die Hände und starrte an die Zimmerdecke. So fand sie die Tochter, die mit der aufgeregten, ängstlich vorgebrachten Frage hereingestürmt kam: "Hast du es ihm gesagt?" Als die Mutter nickte, fiel die Tochter ihr um den Hals und sagte: "Weißt du, es war immer so seltsam bei dem Klavierlehrer. Du warst so anders, und er war so anders. Es wurde auch immer schlimmer. Ich habe das einfach nicht mehr ausgehalten." "Es ist gut, mein Schatz, alles ist gut," sagte die Mutter.

Die Tochter jedoch wandte sich um und stieß vor der Tür des Schlafzimmers fast mit ihrem Vater zusammen. Sie sah ihn an und erschrak.. Sein Mund war klein zusammengepresst, die rechte Braue hochgezogen und in seinem Blick eine Härte und Wut, die sie so an ihrem Vater noch nicht gesehen hatte. Er polterte ins Schlafzimmer. "Was ist hier los?" brüllte er. "Das Eingangs- und Garagentor sperrangelweit offen, mein Beet zertreten und der Rosengarten zerstört, die Anpflanzungen, meine Arbeit, jahrzehntelange Züchtungen." Und dann, zu seiner Frau gewandt: "Warst du das?" "Ja." "Und was ist mit den Vorbereitungen für die Gäste, die in einer halben Stunde kommen. Wo ist die Köchin. Wo die Aufwartefrau? Hast du den Tisch gedeckt?" Die Antwort kam leise, aber eindeutig und klar: "Nein."

"Geruhst du jetzt vielleicht, aufzustehen und endlich anzufangen mit deiner Arbeit?" "Nein." Dann freundlicher mit einem Blick auf seine Frau: "Cornelia, bist du vielleicht krank?" Und wiederum sagte sie: "Nein."

Da rannte der ruhige, hübsche Konsul, Diplomat und Meister gepflegter Umgangsformen sowie eines, wie er zu sagen pflegte, eleganten Umgangs mit der Natur in seinem Schlafzimmer hin und her. Er ballte die Fäuste und gab der offenen Kommodentür einen Stoß, so dass sie mit großen Getöse zufiel , bevor er seine letzten und entscheidenden Fragen hervorstieß: "Was zum Kuckuck ist hier los? Was um Himmels willen hast du nur?" Seine Frau jedoch blickte immer noch mit verklärtem Blick an die Schlafzimmerdecke und sagte, und das war die Krone dessen, was Friedrich von Thon je gehört hatte, leise, aber deutlich: "Ich bin glücklich."

Der Mann stürmte aus dem Zimmer, setzte sich an den ungedeckten Esszimmertisch, legte den Kopf in die Hände und sprach immer wieder vor sich hin: "Sie ist verrückt geworden. Meine Frau ist verrückt geworden." Und: "Ich bin ruiniert. Ruiniert bin ich."

Cornelia indessen lag mit einem glücklichen Lächeln in ihrem Bett. Sie lag da in ihrem unpassenden hellgrünen, nassen Sommerkleid und murmelte immer wieder die Worte vor sich hin: "Nächsten Mittwoch um Drei. Nächsten Mittwoch um Drei. Nächsten Mittwoch um Drei."

 

Unveröffentlicht (2006)

 

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